Schadensbilanz: psychische Folgen der Corona-Krise
Weit über 10 Millionen Menschen haben das Instagram-Video bereits gesehen. Viele Zuschauer äußern sich positiv über die offenen Worte der Journalistin. Doch es existieren auch kritische Stimmen, die die vorgetragenen Zahlen genauer betrachten. Wie sehr belastet der Lockdown tatsächlich die Psyche?
Eine repräsentative Studie, die sich mit den Auswirkungen und Folgen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland beschäftigt, ist unter dem Namen COPSY-Studie bekannt.
Die Untersuchung wurde im Mai und Juni letzten Jahres unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Ravens-Sieberer am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durchgeführt. Es wurden sowohl 1.500 Eltern von 7- bis 17-Jährigen befragt als auch über 1.000 Kinder- und Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren.
Ein Resultat der Forschungsarbeit zeigt, dass das Risiko für psychische und psychosomatische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in 2020 von 18 auf 31 % gestiegen ist. Die Zunahme war vor allem in sozial schwächeren Familien, bei niedrigem Bildungsstand, Migrationshintergrund und/oder begrenztem Wohnraum zu verzeichnen. Das gilt nicht als Entwarnung bei besser gestellten Kindern und Jugendlichen. Grundsätzlich seien in allen Schichten die Auswirkungen des Lockdowns zu spüren, so Dominik Schneider, der Direktor der Westfälischen Kinderklinik in Dortmund.
Die Teilnehmer der COPSY-Studie litten seit der Corona-Pandemie und den damit verhängten Maßnahmen vermehrt an psychischen Problemen und Ängsten. Ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität ist von 40,2 auf 15,3 Prozent gesunken.
Welche konkreten Auswirkungen der Corona-Krise beobachten Mediziner und Psychologen bei Kindern und Jugendlichen? Es wird in Fachkreisen immer wieder von Depressionen, Traurigkeit, Angst, Essstörungen, pathologischem Medienkonsum, Schlaf- und Zwangsstörungen, Albträumen, Drogenkonsum, Suizidgedanken und Störungen im sozialen Verhalten gesprochen.
Jedes 5. Kind litt auch schon vor Corona an psychischen Problemen
Schon vor der Corona- Pandemie litten in Deutschland rund 20 Prozent der Kinder- und Jugendlichen an psychischen Auffälligkeiten. In einer schwierigen Situation können sich diese Probleme verstärken. Der Kinderpsychiater Gottfried Maria Barth arbeitet als stellvertretender ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Tübingen. Er berichtet davon, dass es in seinem Haus, seit Beginn der coronabedingten Einschränkungen, 1,5- bis 2-mal so viele Notaufnahmen gibt wie in den Vorjahren.
Die psychischen Probleme scheinen seit dem zweiten Lockdown im Winter sogar noch zuzunehmen. Das liegt vermutlich an der langen Dauer, der Ungewissheit und auch der größeren, gefühlten Bedrohung durch die neu aufgetretene Mutation des Virus.
Zusätzlich gibt es Herausforderungen, wenn gesunde Kinder- und Jugendliche von psychisch kranken Eltern dauerbetreut werden. Wo vor dem Shutdown noch Kindergärten, Schulen, Sportvereine und Musikunterricht für Auszeiten sorgten, müssen jetzt die belasteten Erziehungsberechtigten oftmals die rundum Betreuung übernehmen.
Das Argument, dass die Notfallbetreuung in solchen Fällen helfen könnte, schläft häufig fehl. In einigen Regionen ist die Maßnahme bei den Jugendämtern anzumelden. Dort kann es vorkommen, dass diese Anträge als Fall der Kindeswohlgefährdung deklariert werden. Das wollen viele Eltern möglichst vermeiden und suchen sich deshalb teilweise keine staatliche Unterstützung.
Wer erkennen will, ob es seinem Nachwuchs in der Corona-Krise gut geht, der hat es schwer. Es gibt keine einheitlichen Verläufe von belasteten Kindern und Jugendlichen. Manche von ihnen fliehen in die Drogensucht, in eine Essstörung oder sind einfach nur sehr ängstlich. Einige Betroffene ziehen sich völlig zurück, andere haben dagegen ein enormes Nähebedürfnis.
Anzeichen, dass mit dem eigenen Kind etwas nicht stimmt, können häufiges Unwohlsein, Bauchschmerzen, Lustlosigkeit, Rückzug und Selbstverletzungen sein. Am besten beobachten Erziehungspersonen die Schützlinge sorgfältig. Ist das Verhalten auffällig, dann sollte rechtzeitig ein Arzt aufgesucht werden.
Das dies aktuell oft nicht passiert, verdeutlichen auch die Aussagen der München-Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik. Dort wird nicht nur eine Zunahme an Patienten mit Essstörungen verzeichnet, sondern auch die Zustände, in denen die Erkrankten eingeliefert werden, sind schlechter. Die Patienten leiden bei Ankunft häufig bereits unter extremem Untergewicht.
Glücklicherweise gibt es auch erfreuliche Nachrichten aus 2020. So erklärte Daniela Ludwig (CSU), die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, dass im letzten Jahr wesentlich weniger Missbrauch von Alkohol und Nikotin passiert sei. Dagegen ist der Cannabiskonsum angestiegen. Er sei früher und regelmäßiger als in den Vorjahren verzeichnet worden. Auch die Computersucht zieht weite Kreise. 70 % der Jugendlichen würden seit dem Lockdown häufiger online spielen.
Oft werden Verabredungen bei Psychologen oder Kinderärzten aktuell abgesagt, weil die Familien Angst davor haben, sich dort mit dem SARS-CoV-2 Erreger zu infizieren. Das Problem ist, dass so psychische Auffälligkeiten nicht erkannt, eingeordnet und professionell behandelt werden können.
Wer den bisher erwähnten Experten zuhört, dem wird schwer ums Herz. Hat Marlene Lufen recht, wenn sie sagt: "Jedes Mal, wenn in den Nachrichten wieder jemand sagt, wir müssen die Zähne zusammenbeißen, hat irgendein Kind zuhause von seinem Vater die Faust im Gesicht, wird irgendeine Frau geschlagen. Überlegt irgendein Jugendlicher in psychischer Not, ob er sich vielleicht von der Brücke stürzt. Das müssen wir wissen, wenn wir einfordern: Einfach mal die Zähne zusammenbeißen."
Eine neutrale Berichterstattung ist die Aufgabe unabhängiger Medien. Deshalb ist es wichtig, sich auch die jeweils andere Seite anzuhören. So scheint es bisher keine konkreten Belege zu geben, dass beispielsweise die Selbstmordraten steigen würden.
Das liegt unter anderem daran, dass die offiziellen Zahlen diesbezüglich noch nicht veröffentlicht wurden. Einige Landeskriminalämter geben allerdings ihre vorläufigen Einschätzungen preis. Bei den Aussagen lässt sich keine zusätzliche Katastrophe ablesen. In Bayern und Baden-Württemberg ist kein Anstieg der Suizide erkennbar. Rheinland-Pfalz sieht sogar einen leichten Rückgang zum Vorjahr. Allerdings wurden dort vorerst nur die Daten bis 16.11.2020 einbezogen.
Ein besonderes Phänomen in Zusammenhang mit Corona könnte die Wahrnehmung verzerren. So scheint es in Pandemien in Bezug auf Suizide sogenannte Flitterwochenphasen zu geben. Zunächst nimmt die Zahl der Selbstmorde stark ab, schnellt aber zu einem späteren Zeitpunkt massiv nach oben. Dies war beispielsweise bereits letztes Jahr in Japan der Fall.
Egal, ob mit der Corona-Pandemie wirklich eine massive Verschlechterung der psychischen Gesundheit einhergeht oder nicht, die Bevölkerung sollte sich solidarisch umeinander kümmern. Den wirklichen Umfang der Folgen von Sars-CoV-2 und des Lockdowns werden wir erst in einigen Jahren identifizieren können.
Psychische Folgen von Corona eindämmen
Es gibt mehrere Ansätze, um die mentale Belastung im Lockdown möglichst gering zu halten.
Zunächst einmal sollten Eltern und Erziehungspersonen versuchen, den Kindern und Jugendlichen die Ängste zu nehmen. Eine neutrale Aufklärung über aktuelle Maßnahmen, die Gefahren des Virus, Mutationen und die Schutzmöglichkeiten ist wichtig. Dabei ist beruhigend und selbstsicher aufzutreten. Wenn die Vorbilder nicht in Panik verfallen, bleiben die Kinder normalerweise auch eher ruhig und bedacht.
Struktur im Alltag gibt den Kleinen zusätzlich Halt. Das tägliche Leben steht Kopf. Eltern sind im Homeoffice, die Schule oder der Kindergarten sind geschlossen. Dennoch sind regelmäßige Abläufe für Kinder und Jugendliche notwendig. Wie der Tag konkret aussieht, bleibt jeder Familie selbst überlassen. Gemeinsame Mahlzeiten, zeitiges Aufstehen und regelmäßige Ausflüge in die Natur sind wichtig.
Damit der Kontakt zur Außenwelt und den Freuden bestehen bleibt, können Skypetermine mit den Großeltern oder liebsten Spielkameraden vereinbart werden. Auch beinahe abgeschriebene Traditionen scheinen einen Aufwind zu erleben. Menschen fangen wieder an, Briefe und Postkarten zu schreiben. Spruchkarten wie von karten-paradies.de lassen sich individuell gestalten, kosten nicht viel und machen eine große Freude. Gerade bei Kindern und Jugendlichen sorgt eigene Post im Briefkasten immer für Begeisterung.
Die Lehrer müssen ebenfalls ihren Beitrag in der Krise leisten, sodass ihre Schützlinge nicht vereinsamen und zu stark unter dem Lockdown leiden. Idealerweise sprechen sie jeden Schultag via Video- oder Telefonkonferenz mit den Kids. So bleibt der Kontakt bestehen. Die regelmäßigen Verabredungen sorgen für Struktur. Außerdem können Lehrer möglicherweise erkennen, wenn es im Umfeld der Kinder Probleme gibt. In Notfällen hat der junge Mensch einen kompetenten und bekannten Ansprechpartner.
Auch die Eltern sollten sich Unterstützung suchen, wenn Ihnen die Mehrfachbelastung zu viel wird. Die Notbetreuung ist ein wichtiges Hilfsangebot, das wahrgenommen werden sollten. Außerdem gibt es mittlerweile sogar Online-Babysitter, die eine vorübergehende Lösung darstellen können.
An der Situation lässt sich gerade nicht viel ändern, aber jeder Einzelne kann einen Beitrag dazu leisten, dass die Lage erträglicher und folgenärmer wird.